Botulinum-Toxin (BT) ist das Gift des Bakteriums „Clostridium Botulinum" und war früher ausschließlich als Auslöser gefährlicher Lebensmittelvergiftungen bekannt. In den letzten Jahrzehnten hat sich seine Bedeutung gewandelt: es findet heute als wichtiges Medikament in vielen Bereichen der Medizin (Neurologie, Dermatologie, Gastroenterologie etc.) Verwendung. Patienten, die mit BT behandelt werden, brauchen sich aber nicht zu sorgen: die Dosis, die sie im Rahmen ihrer Therapie erhalten, stellt nur einen Bruchteil jener Menge dar, die dem Menschen lebensbedrohlich werden könnte.
Die ersten Beschreibungen der Wirkungen von BT am Menschen stammen von dem Arzt und Dichter Justinus Kerner (um 1820). In mehreren Veröffentlichungen schilderte er sehr detailliert die Symptomatik der von BT ausgelösten Vergiftung, ohne dass die Substanz und ihr Wirkmechanismus damals bekannt gewesen wären. Er unternahm selber Experimente, um der Ursache der Vergiftung auf die Spur zu kommen und schlug auch prophylaktische Maßnahmen zu ihrer Vermeidung vor. Bemerkenswert ist, dass Kerner bereits mit der Möglichkeit spekulierte, kleine Mengen dieses Gifts als Therapeutikum einzusetzen. Aus seinen Beobachtungen der Symptome des Erkrankten (Lähmungen, Schweiß-, Tränen- und Speichelblockade) folgerte er, dass das auslösende Gift in geringer Dosis womöglich eine „Arznei“ zur Behandlung von Verkrampfungen, zur Verringerung von übermäßigem Speichel-, Tränen- und Schweißfluss sein könnte.
Der Nachweis, dass die von Kerner beschriebenen Symptome durch das Gift eines Bakteriums ausgelöst werden, das in verdorbenen Lebensmitteln enthalten ist, wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts von Pierre Marie van Ermengem erbracht, einem Schüler des berühmten Mikrobiologen Robert Koch. Er konnte das Bakterium im Stuhl von Erkrankten isolieren, die bei einer Feier Speck verzehrt hatten und anschließend Symptome des Botulismus (wie diese Erkrankung inzwischen genannt wurde) entwickelten. Ermengem benannte das Bakterium als „bacillus botulinus“ – von „botulus" (lat.) = Wurst.
Fast hundert Jahre später (1980) wurde BT erstmals zu therapeutischen Zwecken beim Menschen eingesetzt. In der Zwischenzeit war es gelungen, das Toxin besser zu charakterisieren, seinen Wirkmechanismus zu klären und es in gereinigter Form herzustellen. A. Scott, ein Augenarzt aus San Francisco, suchte nach Alternativen zur Schieloperation und injizierte das Toxin in die äußeren Augenmuskeln. Er erkannte, dass sich BT auch zur Behandlung des Blepharospasmus (Lidkrampfes) eignet, und begründete damit die heutige Standardtherapie für die meisten Formen fokaler (auf eine Körperregion begrenzte) Dystonien. Mittlerweile ist BT ein fester Bestandteil in der Therapie der fokalen Spastizität, der fokalen Hyperhidrose (übermäßige Schweißneigung), bei autonomen Störungen im gastroenterologischen und urologischen Bereich – und nicht zuletzt ein wirksames Mittel der kosmetischen Dermatologie im „Kampf" gegen Falten.
„Clostridium botulinum" – wie der BT produzierende Erreger heute bezeichnet wird – ist ein Bakterium, das zu den Sporenbildnern gehört; d.h. es kann sich in eine extrem widerstandsfähige Form (Spore) umwandeln. Als solche kann es unter ungünstigsten Umweltbedingungen (z.B. Wasser-, Nährstoffmangel) dauerhaft existieren. Werden die Umweltbedingungen wieder günstig, keimen die Sporen aus und bilden wieder die aktiven, Toxin-produzierenden Bakterien. Botulinum-Sporen sind in der Natur weit verbreitet und können verschiedene Lebensmittel verunreinigen (Wurst, Fleisch, Fisch, Gemüse, u.a.). Befinden sich solche Lebensmittel in einem sauerstoffarmen, wenig sauren (pH>4,6) und wasserreichen Milieu (z.B. in unzureichend sterilisierten Konservendosen), dann kommt es zu ihrer Auskeimung, zur Vermehrung der Bakterien und zur Produktion des Toxins. Bei Verzehr dieser Nahrung gelangt das Toxin über den Magen-Darm-Trakt in das Blut und von dort u.a. an die motorischen Endplatten der Skelettmuskel (motorische Endplatte=Verbindungsstelle zwischen Nerv und Muskel), wo es letztendlich Lähmungen hervorruft. Ca 12-36 Stunden nach Aufnahme des Toxins kommt es zu Kopf- und Gliederschmerzen, Mundtrockenheit und Erbrechen. Anschließend kommt es zu Lähmungen der Augenmuskeln mit Sehstörungen und Ptose (Lidheberschwäche), zu Lähmungen der Schlundmuskulatur mit Schluckstörungen und Sprechschwierigkeiten, zu Harnverhalt, Verstopfung und Lähmungen von Atem- und Gliedermuskulatur.
Bei Auftreten dieser Symptome lässt sich der Verdacht auf Botulismus durch den Nachweis des Toxins in Serum, Stuhl oder der zuletzt aufgenommenen Nahrung bestätigen. Die Vergiftung kann heute erfolgreich therapiert werden, wenngleich nicht selten intensivmedizinische Behandlungsmöglichkeiten erforderlich sind. Im Frühstadium kann ein spezielles „Antitoxin" (Gegengift) verabreicht werden, das jenen Teil des BT neutralisiert, der noch im Blut zirkuliert, d.h. noch nicht in Nervenendigungen aufgenommen wurde. Ansonsten müssen die vitalen Funktionen des Patienten gesichert werden (z.B. Atmung), solange sich das Gift in seinem Körper befindet. Nachdem das Toxin abgebaut bzw. durch das Antitoxin neutralisiert wurde, bilden sich die Symptome wieder zurück, ohne bleibende Schäden zu hinterlassen.
Im Körper gibt es bestimmte „Andockstellen“ für BT, diese befinden sich an den Enden sog. cholinerger Nervenzellen, d.h. Nervenzellen, die einen ganz speziellen Überträgerstoff namens Acetylcholin verwenden um mit anderen Zellen – vor allem Muskelzellen, aber z.B. auch Schweißdrüsenzellen – zu kommunizieren bzw. sie zu stimulieren. BT verhindert auf komplexe Weise die Freisetzung dieses Überträgerstoffes. Wenn Muskelgewebe nun keine Nervenimpulse mehr erhält, kommt es zur Erschlaffung bzw. Lähmung des Muskels. Wenn Schweißdrüsen keine Nervenimpulse mehr erhalten, kommt es zu einer Einstellung der Schweißproduktion.
Nach ein paar Wochen werden an den cholinergen Nervenendigungen Mechanismen in Gang gesetzt, die den ursprünglichen Zustand wieder herstellen - das Nervenende regeneriert sich und ermöglicht dadurch wieder die Freisetzung von Acetylcholin. Damit kommen Muskelaktivität, Schweißproduktion etc. wieder in Gang.
Für BT, das zu therapeutischen Zwecken eingesetzt wird, ist der Wirkmechanismus der gleiche. Die erwünschte Wirkung von BT, die mit einer Verzögerung (etwa 3 bis 14 Tage) eintritt, hält nach Injektion in den Muskel etwa 2 - 3 Monate an, nach Injektion in die Haut (Schweißdrüsen) etwas länger. Das in die Nervenzellen aufgenommene Toxin wird schließlich wieder abgebaut. Das bedeutet, dass bei der therapeutischen Anwendung von BT die Behandlung regelmäßig wiederholt werden muss – aber auch, dass sich allfällige unerwünschte Nebenwirkungen der Behandlung (z.B. Schluckstörungen) nach einigen Wochen von allein vollständig zurück bilden.
In den letzten Jahren ist der therapeutische Einsatz von BT zur klinischen Routine geworden. Eine Vielzahl von Erkrankungen lässt sich mit BT günstig beeinflussen, wobei es sich stets um den sehr gezielten, lokalen Einsatz kleinster Mengen von BT (Typ A oder B) handelt. Lokaler Einsatz bedeutet, dass das Toxin in ein eng umschriebenes Areal injiziert wird (z.B. in bestimmte Muskeln). Die Liste der Anwendungsgebiete – die sich laufend erweitert – umfasst fokale Dystonien, fokale Spastik, den Hemifacialen Spasmus, Hyperhidrose (übermäßige Schweißproduktion), chronischen Spannungskopfschmerz, bis hin zur Faltenglättung (siehe Tabelle). Bei manchen Erkrankungen ist die Verabreichung von BT heute die Therapie der Wahl (z.B. Blepharospasmus, zervikale Dystonie), in anderen Fällen wird sie noch diskutiert.
Fokale Dystonie
Andere Bewegungsstörungen
Spastik
Primäre Schmerzsyndrome
Andere (Beispiele)
Unerwünschte Wirkungen von BT können auftreten, wenn das Toxin durch Diffusion oder durch systemische Verteilung (über den Blutweg) zu Muskeln bzw. Organen außerhalb seines Zielbereichs gelangt. Es löst dann eine Blockade der Acetylcholinfreisetzung an jenen Stellen bzw. Muskeln aus, was zu unangenehmen Effekten führen kann: z.B. eine Ptose (Lidheberschwäche) als Nebenwirkung der Behandlung des Blepharospasmus oder eine Dysphagie (Schluckstörung) als Nebenwirkung der Behandlung der zervikalen Dystonie. Art und Intensität der Nebenwirkungen sind stark abhängig vom Anwendungsgebiet, in allen Fällen sind Nebenwirkungen jedoch vollständig reversibel.
Die Verabreichung von BT ist nach heutigem Wissen nicht indiziert bei:
Botulinumtoxin Typ A:
Botox® (Allergan, CA, USA)
Dysport® (IPSEN PHARMA, UK)
Xeomin® (Merz PHARMA, DE)
Botulinumtoxin Typ B:
Neurobloc® (Elan Pharma, USA)
Bei einem geringen Prozentsatz der Patienten kommt es zur Bildung von neutralisierenden Antikörpern gegen BT. Die Folge ist ein "sekundäres Therapieversagen", d.h. das verabreichte BT wird durch die Antikörper unwirksam gemacht und kann keine therapeutischen Effekte hervorbringen. Faktoren, die die Bildung von Antikörpern begünstigen, sind in erster Linie zu hohe Dosen und zu kurze Intervalle zwischen zwei Injektionen. Klinisch erhebt sich der Verdacht auf Antikörper, wenn die Wirkung von BT bei wiederholter Behandlung abnimmt bzw. wenn keine Wirkung nach der Injektion eintritt. Zum Nachweis neutralisierender Antikörper stehen verschiedene Tests zur Verfügung (z.B. EDB-Test, Mouse-Bioassays). Wenn Antiköper gegen BT A vorliegen, dann besteht die Möglichkeit, auf BT B auszuweichen.